Die dritte Kraft und ihr Anteil

Zur These der emotionalen Aufladung

Die beiden bisher besprochenen wei Hauptakteure: den modernen Feminismus und die NS-Zeit. Beide Bewegungen nutzten, propagierten und stabilisierten die Doppelnennung (Bürger und Bürgerinnen, Arbeiter und Arbeiterinnen) in einem Umfang, der in den meisten unserer europäischen Geschwistersprachen undenkbar ist.

Die Schlüsselfrage lautet: Warum hat gerade die deutsche Sprache dieses grammatisch diskriminierende Femininum (-innen) emotional so stark aufgeladen, dass es für weite Teile der Gesellschaft – trotz seiner logischen und strukturellen Mängel – zum Symbol des Respekts und der Anerkennung wurde?

Die Antwort liegt nicht im 20. Jahrhundert, sondern in einem einzigartigen Prozess der emotionalen Meliorisierung, der durch eine Dritte Kraft ausgelöst wurde. Diese Dritte Kraft definieren wir als den unbewussten, kollektiven psychologischen Prozess der Sprachgemeinschaft, der durch den jahrhundertelangen Kampf gegen die Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit in Gang gesetzt wurde.

Zeitpunkt der Abspaltung: 1500 bis 1700

Linguistische Prozesse verlaufen langsam, doch der Beginn des deutschen Sonderwegs lässt sich zeitlich exakt bestimmen:

Die meisten nord- und westgermanischen Sprachen vollzogen zwischen 1500 und 1700 die Abkehr von den Feminina.

In den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Schweden verloren die in-ähnlichen Suffixe in dieser Zeit sukzessive ihre gesellschaftliche Relevanz und wurden zugunsten einfacher, generischer Personenbezeichnungen aufgegeben. Die Sprachen folgten einem natürlichen Trend zur Vereinfachung.

Da die deutsche Sprache sich dieser universellen Entwicklung nicht anschloss, sondern ihre Feminina stattdessen stabilisierte, muss der Mechanismus der Meliorisierung (der Stabilisierung und Aufwertung) spätestens in diesen 200 Jahren aktiv geworden sein. Dieser Zeitraum korreliert exakt mit der Hochphase der Hexenverfolgung in Europa.

Kausale Brücke: Angesichts der beispiellosen geschlechtsspezifischen Opferrate von 75 % bis 80 % an Hingerichteten im deutschsprachigen Raum – im Gegensatz zu Skandinavien, wo die Aufklärung schneller Fuß fasste – wurde das grammatisch existierende und ausschließlich weibliche Suffix -innen zum unbewussten Anker des kollektiven Widerstands und der Empathie für die leidende Gruppe.

(Siehe Tabelle: Im deutschen Sprachraum (HRR) lag der Frauenanteil der Hingerichteten bei 75 % – 80 %. Für diese These ist dieser Fokus auf das Weibliche entscheidend.)

Meliorisierung durch Kampf: Die Analogie

Die These besagt, dass das Suffix -innen durch den emotionalen Kampf gegen das Morden von Frauen unbewusst mit dem Gefühl des Respekts für die Opfer und der Wut auf die Täter aufgeladen wurde.

Um diesen Mechanismus der Meliorisierung (Bedeutungsverbesserung durch sozialen Kampf) zu veranschaulichen, dient der Vergleich mit dem ebenfalls über einen sehr langen Zeitraum geführten Kampf um Bürgerrechte in den USA:

VergleichspunktSuffix „-innen“ (Deutschland, Frühe Neuzeit)Begriff „Black“ (USA, Neuzeit)
Konflikt-GegenstandDer existentielle Kampf um das Lebensrecht der Frau und gegen die Tötung durch staatliche/kirchliche Gewalt.Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Rassismus.
Emotionale GrundlageExtrem hohe emotionale Aufladung durch die ungerechtfertigten, geschlechtsspezifischen Hinrichtungen.Extrem hohe emotionale Aufladung durch die Unterdrückung und Gewalt gegen eine Bevölkerungsgruppe.
Sprachliche ProjektionDas Suffix „-innen“ als grammatisch markierter Geschlechtsbezug (Femininum).Der Begriff „Black“ als sprachlicher Bezug zur Hautfarbe.

Der entscheidende Unterschied:

  1. Im Falle von „Black“: Die Community eignete sich den historisch belasteten Begriff aktiv und bewusst an und meliorisierte ihn zum Symbol für Identität und Stärke.
  2. Im Falle von „-innen“: Die Sprachgemeinschaft lud das Suffix unbewusst und retrospektiv mit Respekt auf.

Obwohl das Femininum grammatisch diskriminierend bleibt (Lehrer $\rightarrow$ Lehrerin), vermittelt seine emotionale Überlagerung durch diesen kollektiven, unbewussten Prozess das tief verwurzelte Gefühl, der weiblichen Person größtmögliche Anerkennung für ihre Sache zu zollen.

Das Erbe der Meliorisierung: Der glänzende Tarnmantel

Diese emotionale Aufladung ist der Grund für die heutige Sackgasse. Der glänzende Tarnmantel der Meliorisierung macht es fast unmöglich, die zugrundeliegende grammatische Ungerechtigkeit zu erkennen. Die Meliorisierung schuf eine Wahrnehmungsverzerrung, bei der das grammatisch Diskriminierende gleichzeitig als maximal respektvoll empfunden wird.

Weil das Suffix „-innen“ im deutschen Sprachgefühl Respekt transportiert:

  • konnten die Nationalsozialisten diese Form im 20. Jahrhundert nutzen, um ihre Propaganda (Volksgenossen und Volksgenossinnen) volksnah und moralisch aufgeladen erscheinen zu lassen.
  • erlag der moderne Feminismus der bauchbasierten Entscheidung, diesen Weg fortzuführen, ohne zu erkennen, dass er ein grammatisch diskriminierendes Fundament (das Ableitungsprinzip) als Fahnenträger für die Gleichberechtigung wählte.

Die Enttarnung dieser Dritten Kraft – des unbewussten Meliorisierungsprozesses – ist der notwendige Schritt, um zu zeigen, dass die heutige sprachliche Spaltung weder allein die Schuld der NS-Zeit noch des Feminismus ist. Vielmehr ist sie das paradoxe Erbe eines kollektiven Kampfes gegen Unrecht. Nur wenn dies anerkannt wird, kann die Sprachgemeinschaft zur alten, generischen und wirklich inklusiven Sprache zurückkehren.