Unser eigenartiger Weg

Auf der Startseite haben wir die Widersprüche rund um unsere Gendersprache und die Frage beleuchtet, ob wir mit unserer Sprache in einer Sackgasse hängen.

Hier verlassen wir nun die Ebene der subjektiven Eindrücke, um zu einer objektiven Beleuchtung des Ist-Zustandes zu kommen. Wir wollen über den Tellerrand des Streits hinaus blicken und per Vogelperspektive einen Überblick gewinnen.

Das Ziel:
Nicht herausfinden, welche Seite des Genderprachenstreits Recht hat.
Sondern herausfinden, wie es dazu kam, dass sich unsere Sprache in eine Richtung entwickelte, die diesen Streit mit dieser offensichtlichen Unvereinbarkeit zur Folge hat.


Der Vergleich als Werkzeug zur Erkennung von Entwicklungen

Ein ideales Werkzeug zur Erkennung von Entwicklungen und deren Richtung ist der Vergleich.
Ohne diese Methode wäre Charles Darwin nie auf die Mechanismen der Evolution gestoßen. Ähnlich wie er nahe verwandte, aber unterschiedliche Finkenarten auf den Galápagos-Inseln miteinander verglich, wollen wir hier unsere Sprache und unsere Geschwisterspachen anschauen.

Darwins Blick richtete sich auf die verschiedenen Schnabelformen der Finken. Er erkannte den Zusammenhang zwischen den auf der jeweiligen Insel herrschenden Lebensbedingungen und der Formen ihrer Schnäbel. Daraus schloss er, dass sich die Organismen nach ihrer räumlichen Trennung langsam an die besonderen Lebensbedingungen ihres neuen Umfeldes angepasst haben mussten. Womit er als gläubiger Mensche die Bibel in Frage stellte, nach der Gott die Arten so geschaffen hat, wie wir sie heuten noch kennen. Damals ein Sakrileg unvorstellbaren Ausmaßes.

Während unsere Vorfahren noch vor 200 Jahren dachten, auch die Sprache wäre genauso konstant und gottgegeben wie die Tier- und Pflanzenwelt, wissen wir heute, dass sich Sprachen ähnlich entwickeln wie Organismen.
Mit diesem Wissen können wir etwas, was Darwin damals nicht konnte: Wir können dank der Logik der Evolutinslehre von den „Schnabelformen“ auf die „Lebensbedingungen“ rückschließen, die zu ihrer Entstehung führten.
Auf die Sprache bezogen: Wir können aus der heutigen Sprache der Menschen zurückschließen auf auf die damaligen Lebensbedingungen der Menschen, die zu dieser Sprache geführt haben können.

Der Vergleich

Vergleichen wir also die Geschwistersprachen der „germanischen Sprachfamilie“. Keine Sorge, weil wir uns nur auf unsere Sprachfamilie konzentrieren, werden Ihnen die fremden Sprachen, von Isländisch über Englisch und Dänisch bis Norwegisch vielleicht bekannter vorkommen als Sie denken.

Wichtig vor allem: Haben Sie bitte bei all den Unterschieden im Hinterkopf, dass all diese Geschwistersprachen vor ungefähr 2.300 Jahren noch eine einzige Sprache waren. Gesprochen wurde sie rund um die westliche Ostsee – dort, wo heute Schweden, Dänemark, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern liegen. Die Menschen dort waren verbunden genug, um per Schifffahrt zu handeln und miteinander zu reden, aber zu weit entfernt, um auf lange Sicht bei einer Sprache zu bleiben.

Diese gemeinsame Ausgangssprache hatte, bevor sie sich aufteilte, 3 Genera, und natürlich auch Endungen für Frauen. Leider gibt es aus dieser Zeit keine schriftlichen Aufzeichnungen. Schauen wir uns statt dessen die Sprachformen an, wie sie heute aussehen.


Die folgenden Tabellen zeigen die Entwicklung dreier unterschiedlicher Wortgruppen innerhalb der germanischen Sprachen. Das Ziel des Vergleiches ist, Besonderheiten der deutschen Sprache zu erkennen, um in einem späteren Schritt der Ursache für den deutschen Sonderweg auf die Spur zu kommen.

Sie enthalten keine entweder/oder-Angaben, sondern bilden den groben Stand bzw. auch die Entwicklung in der neutralen „Berufssprache“ ab.

Lassen Sie sich Zeit, achten Sie vor allem auf die Vorher/Nachher-Situation, auch auf den Zeitraum des Wandels. Und natürlich auf das Ergebnis des Wandels.

Lehrer Situation vor dem Wandel Wandel Situation nach dem Wandel
Oberbegriff Feminina Maskulina Oberbegriff Feminina Maskulina
Deutsch Lehrer Lehrerin Lehrer 1980-heute Lehrerin Lehrer
Englisch teacher teacheress teacher 19. Jh. teacher
Niederländisch leraar lerares leraar 20./21. Jh. leraar
Schwedisch lärare lärarinna lärare 19./20. Jh. lärare
Dänisch lærer lærerinde lærer 19./20. Jh. lærer
Norwegisch lærer lærerinne lærer 19./20. Jh. lærer
Isländisch kennari kennslukona kennari seit langem kennari
Tabelle 1: Entwicklung von „Lehrer“ in germanischen Sprachen.
Schüler Situation vor dem Wandel Wandel Situation nach dem Wandel
Oberbegriff Feminina Maskulina Oberbegriff Feminina Maskulina
Deutsch Schüler Schülerin Schüler 1980-heute Schülerin Schüler
Englisch pupil pupilless pupil 19. Jh. pupil
Niederländisch leerling leerlinge leerling 20./21. Jh. leerling
Schwedisch elev elevinna elev 19./20. Jh. elev
Dänisch elev elevinde elev 19./20. Jh. elev
Norwegisch elev elevinne elev 19./20. Jh. elev
Isländisch nemandi nemandi (w.) nemandi seit langem nemandi
Tabelle 2: Entwicklung von „Schüler“ in germanischen Sprachen.
Influencer Situation vor dem Wandel Wandel Situation nach dem Wandel
Oberbegriff Feminina Maskulina Oberbegriff Feminina Maskulina
Deutsch Influencer im Gange Influencerin Influencer
Englisch Influencer ohne Influencer
Niederländisch Influencer ohne Influencer
Schwedisch influencer ohne influencer
Dänisch influencer ohne influencer
Norwegisch influencer ohne influencer
Isländisch áhrifavaldur ohne áhrifavaldur
Tabelle 3: Entwicklung neuer Begriffe wie „Influencer“ in germanischen Sprachen.

Ergebnis des Sprachvergleichs:
der einzigartige Sonderweg des Deutschen

Zusammengefasst beendeten alle unsere Geschwistersprachen die doppelte Nutzung der Kurzformen, also die Unsicherheit, ob mit Kurzbegriffen wie Lehrer oder Schüler alle oder nur Männer gemeint sind. Sie taten das, indem sie die Feminina strichen und die jahrtausende alten Kurzbegriffe zu eindeutig generischen, also geschlechtsneutralen Begriffen erhoben. Dieser Wandel vollzog sich durch einen natürlichen Sprachwandel; niemand erzwang diesen Wandel, indem z.B. die femininen Sprachformen verboten wurden.

Mit diesem interessanten Schritt kamen all unsere Geschwistersprachen heute in die glückliche Sitaution, mit den seit Jahrtausenden bekannten Nomina agentis weiterhin auf einfache Art diskriminierungsfrei zu reden. Mit „teacher“ und „leerling“ sind dort alle Menschen gemeint, die dort lehren und lernen: Männer, Frauen und die dazwischen.
Während wir mit „Lehrer“ immer mehr die unterrichtenden Männer meinen, und mit „Schüler“ die männlichen Schüler. Folglich müssen, wenn wir von allen Geschlechtern reden wollen, immer die Lehrerinnen bzw. Schülerinnen mitgenannt werden. Nonbinäre Menschen werden so in der deutschen Sprache, die sich gendersensibel nennt, durch Nichtnennung hart diskriminiert, nicht so bei unseren Geschwistersprachen.

Sie haben zwar eine etwas umständlichere Benennung von Frauengruppen, die aber genauso funktioniert wie die Benennung von Männergruppen. Dieser Nachteil wird aber durch den riesigen Vorteil mehr als nur aufgewogen: eine symmetrische, wirklich gerechte Sprache, die nicht zur Sexualisierung zwingt, wenn es nicht um Geschlechter geht.

Das Streichen der Feminina scheint auf jeden Fall die Gendergerechtigkeit unserer Geschwistersprachen nicht zu beeinträchtigen. In den internationalen Rankings zur Gendergerechtigkeit stehen sie weit vor den deutschsprachigen Ländern.

  • Beim EU-weiten EIGE liegen unsere germanischen Geschwistersprachen gemittelt auf Rang 2,5; wir deutschsprachige Länder dagegen auf Rang 10,5 1
  • Beim globalen GGGR liegen unsere Geschwistersprachen gemittelt auf Rang 8; wir D-A-CH-Länder dagegen auf Rang 20.2

Welches Umfeld zu unserem Weg führte

Der Vergleich zeigt ein klares Ergebnis: einen eindeutigen Sonderweg der deutschen Sprache.

Das führt uns natürlich zur Frage des Wieso.
Die solchen Entwicklungsprozessen zugrunde liegende Logik kann hierbei weiter helfen.:
Darwin sah die verschiedenen Finkenschnäbel und die verschiedenen Umweltfaktoren auf den Inseln. Nahe verwandte Tiere, deren Schnäbel sich aber leicht unterschieden. Interessant war, dass die Schnäbel gut zu dem Nahrungsumfeld auf ihren Inseln passten.
Sein Rückschluss: die Arten müssen sich über einen langsamen Entwicklungsprozess an ihr Umfeld angepasst haben.

Im Gegensatz zu ihm wissen wir aber heute, dass sich nicht nur die Arten entwickeln, sondern auch die Sprachen.
Wir wissen, wie unsere Sprachen aussieht, und die unserer sprachlichen Geschwister. Wir wissen sogar ziemlich gut, wie unsere gemeinsame Ursprache aussah.
Was wir aber nicht wissen: Wieso entwickelten sich unsere Geschwistersprachen in die eine Richtung, und die unserer Geschwister in die andere?
Wieso warfen sie ihre Feminina aus ihren Sprachen, und wir hoben sie statt dessen auf die Bühne ins Rampenlicht?

Die Logik der evolutionären Prozesse ist ziemlich einfach. Es entwickelt sich das, was zu dieser Zeit Sinn macht. Seit wir das wissen, brauchen wir uns nur die Finkenschnäbel anschauen und schon können wir erahnen, was es auf dieser Insel zu fressen gab.
Diese Logik hilft uns auch bei unserer Frage: Wieso entwickelte sich die deutsche Sprache ausgerechnet so, wie wir es oben erkannt haben?
Was muss damals auf unserer „Insel“ los gewesen sein, dass die Deutsche Sprache nicht von den Feminina loslassen kann?

Die verschiedenen Schnäbel und die verschiedenen Sprachen

Was erzählen also nun unsere „Schnabelformen“, bzw. auf Sprache übertragen, die Art, wie wir reden, und die Art, wie unsere Geschwistersprachen im Gegensatz dazu reden, über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Umfelder, unter denen sich diese Sprachen entwickelten?

Die Geschwistersprachen verwarfen die Feminina, und wählten statt dessen das generische, das Zusammenfassende.
Männer, Frauen, Inter- und Asexuelle, Männer die sich gerne wie Frauen kleiden, Frauen, die sich gerne wie Männer geben, sie alle finden in dieser Sprache einen gleichberechtigten Platz.

Auf deutschsprachigem Gebiet muss etwas passiert sein, das die Sprache hier anders wachsen ließ.
Etwas, das die Feminina nicht aus der Sprache entlassen wollte, sondern sie statt dessen ins Rampenlicht brachte.
Nicht nur heute, wo es im ÖRR keine Sendung mehr gibt ohne eine ziemliche Flut von Feminina.
Auch schon vor 100 Jahren, wo die Feminina zu einem festen Bestandteil der NS-Propaganda wurden.
Das ist unser aktueller „Schnabel“, daran führt kein Weg vorbei.Hier stehen die Feminina im Rampenlicht, und die Oberbegriffe werden langsam, aber sicher ausgehöhlt. Der tabellarische Vergleich oben belegt es.

Wieso also bei uns diese Betonung der Frauen statt die der Gemeinschaft.

Das ist eine bisher ziemlich ungeklärte Frage, der wir uns auf den nächsten Seiten zuwenden wollen.

Welche Kräfte waren das, die die deutsche Sprache auf diesen Weg brachten?
Um das zu beleuchten, gehen wir Schritt für Schritt in die Vergangenheit; beginnend beim Feminismus der letzten Jahrzehnte.

Fußnoten:

  1. European Index of Glender Equality EIGE 2024: Schweden 1, Dänemark 2, Niederlande 2, Finnland 5, Deutschland 10, Österreich 11 ↩︎
  2. Global Gender Gap Report GGGR 2024: Island 1, Finnland 2, Norwegen 3, Schweden 5, Dänemark 9, Niederlande 28, Deutschland 10, Österreich 24, Schweiz 26 ↩︎